Liebe mich ( Ruth Fleury )

Liebe mich

 

6-8

Liebe mich

von Ruth Fleury

Der einzige Lichtblick waren die Kalenderweisheiten. Anfangs hatte er sie verschlungen, doch irgendwann entwickelten sie sich zu seinen Juwelen des Tages und er beschränkte sich darauf, nur noch einen Spruch pro Tag zu lesen.
„Liebe mich, wenn ich es am Wenigsten verdiene, weil ich es dann am Meisten brauche.“
Der Spruch traf ihn mitten ins Herz. Sein Kinn begann zu zittern und stahlharte Tränen zogen ihre Spur durch sein Gesicht.
„Liebe mich, wenn ich es am Wenigsten verdiene …“ wiederholte sein Herz wieder und wieder, bis es die Worte rauszuschreien schien. Sein Mund aber blieb stumm.
Lieben? Mich, einen Mörder, der seinen besten Freund erschlagen hat. Verprügeln, vielleicht hätte das gereicht. Scheiße, konnte keinen klaren Gedanken fassen. Egal. Der Scheißkerl hat es verdient, oder nicht? Doch!
Hab euch gesehen, im Park. Umarmen, Küsse, Leidenschaft, Hand in Hand, Lachen. Worüber? Galle steigt auf, Kopf kirschtomatenrot, droht zu explodieren. Ast, rennen, Holz splittert, Blut spritzt rosa, gellende Schreie, dringen nicht tief, Hass, Wut, Verzweiflung, Schläge über Schläge, Sirenen, Polizei, Schmerz, Handschellen, warmes Blut, Hass, flehende Augen. Claudia schreit, Michael stumm.
Michael, toter Michael, Freund, Feind, Frauendieb. Zwanzig Jahre Schachpartner. Zwanzig Jahre Rathaus. Zwanzig Jahre Arbeit, Tisch an Tisch, geteilte Freizeit, gegessen, spaziert, geplaudert – gemeinsam.
Freund, ein einziger Freund reicht, mehr braucht`s nicht, alles andere Quatsch, Zeitverschwendung. Scheiße, du bist kein Freund, Vertrauensräuber.
Claudia, wundervolle Claudia, warum? Meine Liebe, umworben, hofiert, in Rosen gebettet, erhört. Sex, Spaß, Kinder, sechs und acht, Freude, Lachen, Weinen, Reden, schleichend wortkarg, reduzierte Nähe, gereizt, genervt. Wieso?
Wo seid ihr? Kinder, meine Kinder! Warten, Tag für Tag, Jahr für Jahr, Sehnsucht, grausame Einsamkeit, Verzweiflung, Reue, Trauer, Sterben, Pulsadern aufreißen. Gabel zu schwach, Blut, kein erlösender Tod. Tod mit Tod vergelten, wäre gut. Stattdessen Einschluss, Ausschluss, Kampf, Schmerz, Schuld, Vibrieren, Zittern, Schreien, Toben, Weinen, Zerreißen, Betteln, Abbitte, Verzeihen, Kopfgefängnis, Psychologen ohne Chance. Flehen zu Gott. Der interessiert sich nicht.
Messerscharf würde der Kalenderspruch sein Herz in Stücke schneiden. Genau jetzt! In diesem Augenblick! Ausbluten, vorbei! Glücklich vorbei!
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, schloss die Augen.
„Raus treten, sie haben Besuch.“
Er rührte sich nicht.
„Kommen Sie, sie haben Besuch. Ihre Kinder sind da.“
Er sprang auf, starrte die Wache mit weit aufgerissenen Augen an, öffnete den Mund und fiel um.
„Liebe mich“, hauchte sein Herz ein letztes Mal.


Jules Barrois – Neues aus der Schreibwerkstatt

Unter der Rubrik: Neues aus der Schreibwerkstatt stelle ich in der saarländischen Dorfzeitung in loser Reihenfolge Kurzgeschichten und Essays verschiedener Autoren vor.

http://www.barrois.de/


 

 

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