Viertens – Ein Saarländer in Mexico

Beinahe-Minutenprotokoll Hurricane Patricia.

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Screenshot http://www.bbc.com 23.10.2015 11:00

 

22.10. – 03:00
Das US National Hurricane Center registriert, dass der Tropensturm Patricia einige hundert Kilometer vor der mexikanischen Küste Hurricane-Stärke erreicht hat. Bald steht fest, Patricia soll der stärkste Hurricane werden, der je an der amerikanischen Küste aufgezeichnet wurde.

23.10. – 7:30
In Guadalajara, Jalisco klingelt ein Wecker.

7:31
Ich werde von einem widerlichen Brummen geweckt. Ich taste nach dem Knopf.

7:38
Mein Wecker klingelt.

7:42
Ich schäle mich aus meiner Bettdecke, robbe an die Bettkante und ziehe mir Socken an.

7:43
Ich stelle fest: Genug gearbeitet für heute.

7:45
Ich werfe einen ersten Blick aus dem Fenster. Nieselt.

8:00
Ich steige (mit Regenschirm bewaffnet) die Treppe herab und treffe im Aufenthaltsraum Samba, den putzigen Hund. Auf der Couch liegt Norteño, der hässliche Hund. Lennart ist auch da. Schon in Regenjacke.

8:01
Lennart und ich beginnen, uns gegenseitig den gestrigen Tag zu erzählen.

8:30
Ich gehe in die Küche. Ich habe Hunger.

8:31
Ich gehe zurück in den Aufenthaltsraum, um Lennart zu fragen, ob er noch irgendwo Sojamilch hat. Er verneint.

8:32
Ich gehe zurück in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken.

8:34
Ich komme zurück in den Aufenthaltsraum, um Lennart zu fragen, ob unser Vermieter kein Wasser gekauft hat.

8:36
In Guadalajara im Bundesstaat Jalisco beschließen zwei junge Männer den kaltblütigen Mord an ihrem Vermieter.

8:40
Ich entschließe mich, einen „Vollkorn“-Toast von Oxxo zusammen mit Fertigbohnen in der Pfanne anzubraten und das Ganze dann „Frühstück“ zu nennen.

9:01
Ich verlasse das Haus, um pünktlich um 9 Uhr bei der Arbeit zu sein.

9:15
Ich komme im Casa Cem an. In einem der beiden Büros brennt angenehm warmes Licht.

9:15:30
Ich beschließe: Ich will unbedingt in das Büro mit dem angenehm warmen Licht.
Ein halber Laptop.
Ein halber Laptop.

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9:16
In dem Büro mit dem angenehm warmen Licht ist nirgendwo Platz, um meinen Laptop aufzustellen. Ich setze mich an einen Tisch und will den halben Laptop, der vor mir an einen Bildschirm angeschlossen ist, wegschieben.

9:17
Ich stelle fest: Ich muss zuerst die Kabel entfernen.

9:21
Ich habe alle Kabel vom halben Laptop entfernt und stelle meinen vollständigen Laptop auf.

9:22
Eine Kollegin begrüßt mich. Sie deutet stumm auf den halben Laptop.

9:26
Ich habe alle Kabel an den halben Laptop angeschlossen, meinen vollständigen Laptop wieder zusammengeklappt und begebe mich auf den Weg in das Büro ohne angenehm warmes Licht.

9:27
Ich mache mich daran Procedimientos zu schreiben.

9:52
Ich gehe in die Küche, um Kaffee zu kochen.

9:55
Ich kehre ins Büro zurück.

10:13
Eine Kollegin fragt mich, warum ich so mies drauf bin. Ich bin aber gar nicht mies drauf.

10:13:30
Ich teile einer Kollegin mit, dass ich gar nicht mies drauf bin.

10:14
Eine Kollegin fragt mich, ob ich mir sicher sei, ob ich denn nicht mies drauf bin und was denn nicht stimme.

10:14:30
Ich antworte einer Kollegin, es sei wirklich alles in Ordnung. Die Kollegin schaut mich unnachsichtig an und geht.

10:16
Ich stelle fest: Ich bin mies drauf.

11:00
Auf ihrer Website kündigt die BBC in der Schlagzeile den größten Hurricane in der Geschichte Amerikas an. Auf einer Karte ist seine Reiseroute eingezeichnet. Sie schneidet sich fast genau mit einem kleinen weißem Punkt. Neben dem Punkt steht „Guadalajara“.

11:01
Ich erzähle meinen Kollegen davon, dass die BBC auf ihrer Website den größten Hurricane in der Geschichte Amerikas ankündigt. Meine Kollegen belächeln den Ausländer und versichern ihm, in Guadalajara werde vom Hurricane nicht mehr ankommen, als ein bisschen Regen.

11:15
Ich begebe mich in die Küche, um Kaffee zu kochen.

11:20
Ich komme zurück ins Büro.

11:27
Im Büro haben sich Gesprächstrauben gebildet. Die haben alle irgendetwas mit einer Patricia zu tun. Und Regen.

11:30
Auf dem Laptop einer Kollegin läuft ein Video, in dem ein Mann in dunklem Anzug mit blauer Krawatte vor einem Satellitenbild von Mexiko steht, über dem ein roter Wirbel kreist. Der Mann redet sehr langsam und deutlich, gestikuliert ausladend. Er hat offenbar gerade den Auftritt seines Lebens.

12:03
Ein Kollege verkündet, der Hurricane komme um etwa 18 Uhr in Guadalajara an. Um diese Uhrzeit sollten alle in ihren Häusern sein. Ich bemerke, mein Haus sei wohl der ungeeignetste Ort, um sich während eines Hurricanes aufzuhalten.

12:58
Ein Kollege beugt sich diskret über meinen Schreibtisch. Er versichert mir, dass der Hurricane lediglich Angstmache ist, um die Bevölkerung abzulenken, von der Sache mit dem Öl.

14:00
Ich habe Hunger. Ich fasse den Beschluss, ein Lonche kaufen zu gehen.

14:04
In der Tienda, in der ich mein Lonche bestellt habe, läuft das Radio. Der Sprecher erzählt etwas von Patricia und ihrem Auge.

14:17
Ich gehe in die Küche, um dort mein Lonche für das Mittagessen zu deponieren. Eine Kollegin zieht sich gerade eine Strickmütze über. Einen Schal hat sie schon an. Ihren Mantel auch. (Es sind etwa 20 Grad.) Sie schaut irritiert zu mir und meinem Brötchen.

14:18
Eine Kollegin teilt mir mit, wir würden heute nicht auf der Arbeit essen. Diese Bemerkung macht mich sehr unruhig.

14:22
Im Büro haben bereits alle ihre Sachen zusammen gepackt. Ich eröffne eine Diskussion darüber, ob wir nun alle sterben werden.

14:25
Nach einigem Widerstand bildet sich ein Konsens darüber, dass wenigstens ein Teil von uns sterben wird.

14:30
Wir beschließen, wo einige von uns sowieso sterben, können wir auch noch den Kühlschrank leeren. Ich esse ein paar Maiskolbenscheiben und packe einige in eine Brotbox.

14:40
Wir verlassen das Büro und wünschen uns gegenseitig ein angenehmes Überleben.

15:03
Ich habe Hunger.

15:04
Ich packe die Brotbox aus, gebe etwas Öl in eine Pfanne ohne Griff und lege die Maiskolbenscheiben dazu.

15:05
Ich stelle fest: Die Maiskolbenscheiben könnten hübscher arrangiert sein. Ich lege sie um.

15:07
Ich stelle weiterhin fest: gebratener Mais wird Popcorn.

17:04
Lennart kommt zuhause an.

17:05
Lennart berichtet, er habe heute erfahren, warum Hurricanes immer Frauennamen haben: Wenn sie erst mal wieder fort sind, hat man kein Haus und kein Auto mehr.*

17:15
In seiner Wohnung in der Avenida Niños Heroes schreibt ein junger Mann mit Zopf eine Nachricht an einen Kollegen: Ich fahre jetzt nach Leon. Kann nicht auf euch warten.

17:16
Mein Handy vibriert.

17:16:0,003
Ich schreibe einem Kollegen eine Nachricht: Bist du wahnsinnig? Gib uns eine halbe Stunde.

17:17
Ein Kollege mit Zopf gibt uns eine halbe Stunde.

17:40
Ich komme aus meinem Zimmer. Laut Lennart verlangt unser Vermieter, dass ich meinen Teller abspüle. Ich verneine, einen Teller benutzt zu haben.

17:41
Ich stapfe unter Protest in die Küche.

17:42
Ich stelle mit Befriedigung fest: Da ist kein Teller von mir. Ich hatte also Recht.

17:43
Ich spüle meine Schüssel ab.

17:45
Wir verlassen das Haus. Der Regen ist nochmal stärker geworden.

17:52
Ich gehe zur Uni um Geld abzuheben.

17:57
Eine Frau in cremefarbenen Mantel, Mitte 50, läuft an dem Verwaltungsgebäude der Universidad de Guadalajara vorbei. Sie ist auf dem Weg zum Supermarkt auf der anderen Straßenseite.

17:58
Einer Frau, die gerade an dem Verwaltungsgebäude der Universidad de Guadalajara vorbeiläuft, fällt ein 1,93m großer junger Mann mit Brille und Kinnbart auf, der vor dem Geldautomaten der BBVA steht. Hinter seinem Rücken schlägt ein Mann gleichen Alters, dunklerer Typ, hochaggressiv auf den Geldautomaten ein. Die Frau greift in ihre Manteltasche, lässt ihr Handy aber gleich wieder fallen. Sie befürchtet, der Blonde könnte handgreiflich werden.

18:04
Wir erreichen, ich für meinen Teil mit nassen Füßen, den Treffpunkt, die Estación Juárez.

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18:07
Ich empfange eine SMS, die mich darauf hinweist, dass ich mich zuhause einschließen und Essen und Trinken für mindestens zwei Tage einlagern soll, falls ich mich im Risikogebiet des Hurricanes befinde.

18:08
Nach kurzer aber reiflicher Überlegung entscheide ich, mich nicht im Risikogebiet des Hurricanes zu befinden.

18:15
Wir steigen in den Bus ein, der uns zum Bus bringt.

18:17
Ich stelle fest: Es ist schon 18:17.

18:18
18:18 und vom Hurricane ist immer noch nicht mehr zu sehen als ein bisschen Regen.

18:20
In der Reihe vor mir schaut sich eine Frau Videos vom Hurricane in Vallarta an. Ein paar Palmen werden umgeknickt. Ihr Finger hetzt auf dem Bildschirm hin und her, auf der Suche nach einem Video, das ein bisschen mehr Zerstörung zu bieten hat.

18:27
Aus dem Bus steigt ein Mann mit grauen Locken, Schirmmütze und Yu-Gi-Oh-Rucksack aus. Und weißen Gummistiefeln. Er betreibt Vorsorge.

18:38
Wir kommen am Busbahnhof an. Ich bemerke Lennart gegenüber, der Busbahnhof sehe aus wie ein Flughafen.

18:39
Lennart und ich streiten darüber, ob der Busbahnhof aussieht wie ein Flughafen.

18:43
Wir warten am Gate.

18:50
Bei der Policía Municipal in Guadalajara geht ein anonymer Anruf ein. Eine Frauenstimme gibt zu Protokoll, sie habe um etwa 18 Uhr zwei junge Männer dabei beobachtet, wie sie den Geldautomaten am Verwaltungsgebäude der Universidad de Guadalajara geknackt haben. Sie sei sich sicher die beiden hätten Deutsch gesprochen, mit osteuropäischem Akzent.

18:54
Vor dem Bus stellen uns zwei Damen vor die Wahl: Wasser, Cola oder Limonade. Ich greife nach der Wasserflasche und werde darauf hingewiesen, dass ich es zu unterlassen habe weiterhin nach Flaschen zu greifen. Die Getränke werden nämlich von den Einpackdamen in eine Plastiktüte gepackt. Zusammen mit einem Sandwich und Keksen. Das Sandwich und die Kekse befinden sich ebenfalls in Plastiktüten.

18:55
Ich bitte eine der Damen darum, meine Sachen bitte nicht in eine Plastiktüte zu packen. Sie besteht darauf. Auf den Tüten ist Werbung aufgedruckt.

18:56
Ich frage, ob es die Sandwiches auch ohne Fleisch gibt.

18:57
Eine der Essenseinpackdamen am zentralen Busbahnhof in Guadalajara drückt einem überaus unhöflichen Kunden schweigend eine Plastiktüte in die Hand und weist ihn mit einer Geste an, sich zum Bus zu begeben.

18:58
Lennart und ich stellen fest, wie weich die Sitze sind. Und dass es Steckdosen gibt. Und W-Lan. Und ausklappbare Beinablagen. Lennart meint, es fehlt nur noch der Fernseher.

18:59
Ich habe Hunger.

19:00
Lennart entdeckt den Fernseher über seinem Sitz.

19:02
Es stellt sich heraus, dass Lennart glücklicherweise auch Hunger hat. Ich stelle fest: Wenn ich jetzt schon mein Sandwich esse, wird sich die gesellschaftliche Ächtung in Grenzen halten.

19:03
Ich reiße die Plastikfolie meines Sandwiches auf und klappe die Toastscheiben auseinander. Die Wände sind weiß angepinselt. Innen liegt ein kümmerlicher rosa Lappen auf einem noch kleineren kümmerlichen gelben Lappen. Ich entferne den rosa Lappen.

19:04
Lennart fragt mich, ob es jetzt, da die Wurst nunmal auf dem Brot liegt nicht auch für einen Vegetarier in Ordnung wäre die Wurst zu essen. Ich antworte, dass er da wohl Recht habe, ich aber Wurst unappetitliche fände.

19:05
Eine Wurst wandert unter Diskretion.

19:06
Lennart stellt fest, dass die einzig konsequente Handlung gewesen wäre, das Sandwich abzulehnen. Ich gebe ihm Recht.

19:07
Mein Magen widerspricht.

20:07
Ich werde auf Facebook als „in Sicherheit“ markiert.

*An dieser Stelle ist anzumerken, dass weder Lennart noch ich den Wahrheitsgehalt dieser These als besonders hoch einschätzen. Wir setzen uns intensiv dafür ein, dass der nächste Hurricane einen Männernamen bekommt. Hurricane Horst… oder Fridolin.
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Fortsetzung folgt demnächst….

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