Zweitens – die Ankunft – der Pato

Der blaue Punkt ist wieder ein kleines Stückchen nach links geruckelt. Und dort liegt auch irgendwo der andere blaue Punkt. Irgendwo noch mehr links. Alcalde. Sehr gut.

Und oben rechts in der Ecke 18:37 – nicht ganz so gut.

Ich stecke mein Handy wieder ein. Verdammt. Augen. Blicke.

Ich bin jetzt einfach ein bisschen weniger Gringo.

Ein Bein ein bisschen lässig nach hinten.

Jetzt gegen diese Stange da hinter mir lehnen. Die gehört wohl irgendwie zu der ausfahrbaren Rollstuhlrampe. An was die hier alles gedacht haben.

Fühlt sich sicher an. Sehr gut.

Stehen tu ich jetzt zumindest mal einigermaßen.

Hab’ ich gut gemacht.

In der Masse untergetaucht, unsichtbar geworden.

Jannik Brachmann – Nebenberuf Chamäleon.

Nochmal ein Blick nach hinten, aber gaaanz unauffällig, nur um mir Bestätigung zu holen.

Die starren immer noch.

Aber egal, ich sage nichts. Ich stehe hier ja auch echt rum wie der letzte Dietrich.

Oxxo ist sowas wie eine Tankstelle ohne Zapfsäule. Und doch mehr. Hier findet man findet Plastikteller, Plastikmesser, Plastikgabeln, Plastiklöffel und Servietten. An einem Tresen in der Mitte kann man sich aus einer von drei Kannen frischen Filterkaffee in einen Styroporbecher gießen. In einer Vitrine an der Kasse gibt es fünf verschiedene iPhone-Ladekabel (in jeweils 3-6 verschiedenen Farben), Tastenhandys, Klapphandys, Kamerahandys und Smartphones. 

Schon wenn man durch die gläserne Eingangstür tritt, spürt man sie.

Eine Sphäre der Transzendenz zwischen hier und irgendwo anders.

Ein freundlicher älterer Herr mit Schirmmütze, einem grünen T-Shirt mit dem Aufdruck “Salven el Planeta” öffnet, mir mit einem verheißungsvollen Lächeln auf den Lippen, das Portal zum Oxxodies.

Hallo.

Hallo.

Verkaufen Sie SIM-Karten für Movistar?

Bitte?

SIM-Karten. Um ins Handy zu legen.

Nein, Karten haben wir keine, nur Guthaben.

Aber Karten verkaufen Sie keine?

Nein.

Wissen Sie, wo ich eine finden kann?

Im Zentrum. Auf der Avenida Alcalde. 

Alcalde?

Ja.

Keine SIM-Karte für mich. Guthaben aber keine SIM-Karte. Was ist das für ein Laden, der Guthaben aber keine SIM-Karten verkauft?

Oxxo. Ein Saftladen. Ich will hier raus. Ich brauche Luft. 

Ich fasse nach der Tür. Sie wird von der anderen Seite aufgerissen. 

Ich werde fast aus dem Laden geschleudert. 

Ein ungepflegt wirkender alter Mann mit ausgewaschenem, grünem T-Shirt und fransiger Schirmmütze, aus der seine weißgrauen Locken quellen, hält den Türgriff in der Hand – und mir eine leere Joghurt-Dose unter die Nase. 

Ich krame aus meinem Geldbeutel 5 Pesos heraus. Ich frage ihn, welchen Bus ich nehmen kann, wenn ich an die Alcalde will. 

626. 

Und wo hält der?

An der Ecke dort vorne, zwei Blöcke von hier. 

Ich bedanke mich. 

Netter Kerl. Wusst’ ich’s doch. 

Mist. Ich fliege.

Irgendwie hat es Rodriguez* geschafft, 15m Blech und Mensch um eine 120 Grad Kurve zu reißen, ohne auch nur die Bremse anzutippen.

Und irgendwie schaffe ich es, im Fallen mit beiden Händen die Metallstange über mir zu greifen, ganz ohne komplett umzukippen.

Ich bin stolz auf meine Leistung. Kann mich aber nicht so wirklich drüber freuen.

Das war’s dann mit dem Nichtauffallen.

Ich glotze nach vorne. Ich spüre die Blicke auch so.

Wieso machst du sowas Rodriguez?

Ich habe keine Lust, auf den 626 zu warten. Habe ja auch keine Ahnung wann der kommt. 

Die Öffentlichenahverkersmittelnavigation (so viel Heimat in so wenig Wort) von Google Maps funktioniert natürlich nicht. Wie denn auch – ohne Internet – ohne SIM-Karte. 

Außerdem bin ich ja um 7 verabredet und kann nichtmal absagen. 

Wie denn auch…

Die Frau mit Pferdeschwanz und dunklem Blazer. Sie hat ihr Handy noch in der Hand. Gerade erst einen Anruf abgefertigt. 

Sie fragt einen Busfahrer, ob er zur Alcalde fährt. Sie dreht sich zu mir um, schüttelt den Kopf.

Ich lächele. So viel ungefragte Hilfsbereitschaft. Kulturschock.

Und da ist die 626. Mercedes, Baujahr irgendwann zwischen “Hat das Ding schon ‘nen Sicherheitsgurt“ und “Klonk. War das der Auspuff?“. 

Ich bedanke mich, so ausgiebig ich es nur irgendwie auf Spanisch hinbekomme, bei der Dame und klettere ein.

Fahren Sie zur Alcalde?

Ja.

Können Sie mir Bescheid sagen, wenn wir dort sind?

Klar.

Ich drücke dem Busfahrer 7 Pesos in die Hand und er mir mein Ticket. Meine Münzen fallen in eine schwarze Metallschüssel, die unter dem Armaturenbrett angebracht ist.** 

Ich werfe einen Blick in das Heck des Busses – das Heck des Busses wirft einen Blick auf mich. 

Da sitzen nun exakt 34*** Menschen auf den exakt 34**** Sitzschalen dieses Busses. 

Planung ist alles. 

Nur bin ich eben nicht eingeplant.Vergessen, überzählig oder absichtlich gedemütigt?

Das dritte, fünfte siebte oder was auch immer für ein ungeradzahliges Rad. 

Wenn man nicht gerade Einrad fährt, oder Schubkarren – oder eins von diesen unglaublich langen Motorrädern mit drei Rädern.*****

Ich bin jetzt auf jeden Fall mal schwer getroffen von diesem Tiefschlag, des Universums . Ich lehne mich an die Seitenwand. Was ist das eigentlich für ein schwarzes Gestänge neben mir?  

So ähnlich hat der Bus ausgesehen... Hab's leider verpasst, ein Foto zu machen. Quelle: http://observatoriobahia.mx
So ähnlich hat der Bus ausgesehen… Hab’s leider verpasst, ein Foto zu machen. Quelle: http://observatoriobahia.mx

Der blaue Punkt ist jetzt bei dem anderen blauen Punkt angekommen. Sie berühren sich schon fast. Richtig süß die beiden. Und Rodriguez hat mich enttäuscht.

Ich muss hier aussteigen, oder?

Ach ja stimmt, Alcalde. Ja, du musst hier raus.

Irgendjemandem, der hier die Straßenschilder gestaltet hat, bin ich gerade überaus dankbar.

Rechts neben dem “Av. Alcalde” steht nämlich “centro”, auf der anderen Seite auch irgendwas, aber das interessiert mich jetzt weniger.

Ich gehe also nach rechts.

Wie einige andere Straßen in Guadalajara ist die Avenida Alcalde gerade ziemlich verwaist, der Baustelle wegen. Ich laufe an einer Absperrung aus Pylonen und Metallstangen vorbei, über die ein rotes Netz gespannt ist.

Ungewohnter Anblick so eine breite Straße, mitten in der Stadt, mitten am Tag und nicht ein Auto.

Keine Conquistadores aus Blech und Kautschuk die von dem Boden Besitz ergreifen wollen, die vor roten Ampeln in nervöser Sehnsucht mit den Hufen scharren, nur um ihn bei Grün achtlos zu überrollen voll lechzendem Hunger nach dem nächsten Bröckchen Asphalt. Es zu besitzen, es zu benutzen, es zu demütigen.

Dieses Land wird jetzt von keinem gedemütigt.

Dieses herrenlose Land.

Dieses Stück freie Erde, das nach seinen versklavten Brüdern und unterdrückten Schwestern schreit.

Es zieht mich zur Mitte. Zum Epizentrum ihrer majestätischen Aura.

Auf dieser Straße will ich meine Stadt errichten.

Wo Geld nur Papier ist und Freiheit kein Wort braucht.

Auf dieser Straße, die vor mir liegt, mit entfesselten Armen, in ihrer, braune-beigen Jungfräulichkeit, in verlangender Erwartung auf etwas, auf jemanden- auf mich.

Jetzt und hier! In der Vollkommenheit dieses Schnipsel Lebens!

Über meinem Kopf der blaue Himmel, vor meiner Stirn der weite Horizont, unter meinen Füßen der unberührte, reine Staub.

Und an meinen Schuhen. An meinen fast neuen Schuhen.

Ich bin wieder auf dem Bürgersteig.

Irgendwie werde ich dieses Gefühl nicht los, ganz fett “Gringo” auf dem Rücken stehen zu haben.

Entspannen.

Einfach nach vorne schauen. Zum Busfahrer. Auf seinen Hinterkopf, von dem er ein paar graue Haare nach vorne gekämmt hat.

Hübscher Jesus-Aufkleber auf der Scheibe da. 

Ist überhaupt alles ganz gemütlich eingerichtet hier. 

Die drei Rückspiegel und das Lenkrad sind alle in diesen flauschigen weißen SM-Stoff gepackt. Haben auch alle einen Schriftzug aufgeklebt. Auf dem linken steht in ausladender Schreibschrift “Rodriguez”. 

Auf dem in der Mitte “El Pato de Goma” – Die Gummiente.

Jetzt find ich den Bus aber langsam richtig interessant. Und den Fahrer auch.

Genau so fluffig wie die Rückspiegel hat es auch der Schaltknüppel. Der ist irgendwie ziemlich riesig, weil er aus dem Boden des Buses bis auf Rodriguez’ Armhöhe ragt.

Rodriguez hat ihn in eine weiche Kunststoffverkleidung gesteckt. Grau-beiges Zackenmuster. Sehr sportlich, sehr schick. Oben drauf sitzt – wie die Kirsche auf der Sahne- eine schwarze Billardkugel. 

Farblich perfekt mit Rodriguez’ Anzughose abgestimmt übrigens. Und sogar sein T-Shirt hat er an die Lackierung des Buses angepasst. 

Großer, Blauer Handabdruck auf dem Rücken.

Verkaufen Sie SIM-Karten für Movistar?

Bitte?

SIM-Karten.

Nein, haben wir keine. Aber frag mal den Jungen da draußen am Stand.

Hallo, verkaufen Sie SIM-Karten für Movistar?

Nein, nur Telcel.

Hm… Wissen Sie, wo ich welche von Movistar finden kann?

Movistar?

Ja.

Moment ich frag den mal, ob er weiß, wo’s hier ‘nen Movistar-Laden gibt.

Ey sag mal weißt du wo’s hier ‘nen Movistar-Laden gibt?

Movistar… Wart mal, das haben die im Electrobox.

Findest du im Electrobox. Das ist gerade hier die Straße runter nur zwei… Ey sag mal wieviele Blöcke waren das?

Wart mal eins zwei…

Ähm, dankeschön, aber im Elektrobox war ich eben schon, die hatten nichts.

Vier Blöcke in die Richtung und dann auf der rechten Seite.

Vier Blöcke in die Richtung und dann auf der…

Ja danke, ich war da eben schon und die haben gesagt, sie haben nichts.

Nee, das kann nicht sein. Ey der sagt, die hätten das dort nicht.

Nee, das kann nicht sein. Die haben das.

Also du gehst jetzt einfach hier die Straße lang – Ey wieviele Blöcke nochmal?

Vier.

Ja, wie gesagt, eigentlich…

Vier Blöcke und dann ist der Laden auch schon auf der linken Seite.

Danke.

Daffy Duck klebt in Überlebensgröße unter der Frontscheibe. 

Und ich beinahe drauf. Schlagloch. Und nicht so eine niedliche kleine Unebenheit in der Asphaltdecke, die von den Stoßdämpfern weggestreichelt wird. 

Das Ding war ein Mondkrater.

So. Wieder gesammelt. Zeit habe ich auch noch genug auf der Uhr.

Rodriguez’ Rücken gibt mir einen High-Five.

Und die Straße ist jetzt auch endlich mal frei vor uns. Nur das Schild stört – 40.

Rodriguez reißt an der Bowlingkugel. 

Fahren kann der Mann wirklich, wie der diesen Bus beschleunigt, also Respekt. 

Und er wird sogar noch schneller, so gefällt mir das.

Er wird noch schneller.

Gut ganz so würd’ ich jetzt hier vielleicht nicht… wenn jetzt ein Kind hinter der Kreuzung…Ach, der weiß was er macht. Der fährt die Kiste schon ein paar Jährchen.

Er wird noch schneller. Könnte für meinen Geschmack dann doch so langsam mal vom Gas runter.

Wieviel fährt der eigentlich? Ich bin ja jetzt  kein ein hysterischer Tourie oder so. 

Ich bin ja auch ganz entspannt. Ich vertrau meinem Pato. Nur mal so ganz unauffällig auf den Tacho… Nur so aus Interesse.

Am Armaturenbrett hat Rodriguez seine Kreativität nicht walten lassen. Schwarzer Hintergrund weiße Striche, roter Zeiger. Alles noch wie frisch vom Werk. Und alles so groß, dass ich die Zahlen ohne Probleme von hier hinten ablesen kann.

Die Nadel steht genau auf…

Da ist keine Nadel. 

* Name geändert

** Nur um Missverständnisse zu vermeiden, das ist die ganz offizielle Kasse.

*** Nein, ich habe nicht nachgezählt.

**** Immer noch nicht.

***** Um weitere Anregungen bezüglich Fahrzeugen mit ungeradzahligen Rädern bin ich sehr erfreut.

Yannik Bmann

Fortsetzung folgt in Kürze:

http://www.saarlaendische-dorfzeitung.de/menschen-aus-der-region-2/ein-saarlaender-in-mexico/drittens-38-pesos/

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