Max, der Mutige – Ruth Fleury

Max der Mutige

von Ruth Fleury

Da lag es, das Buch, zugeklappt, zusammengeschnürt, mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Die filigrane Schrift seiner Verfasserin begann zu verblassen. Lange, sehr lange schon lag es in der Bibliothek des verlassenen Schlosses. Das Lesepult mit seinen orientalischen Intarsien krächzte immer wieder unter der Last der geschriebenen Worte.

Die schnörkelig verzierte Tür zur Bibliothek knarrte, als Max sie mit der Kraft seiner sieben Jahre aufschob. Ein Windzug wirbelte den Staub der letzten ungestörten Jahre durch die Halle. Max schüttelte den grauen Puder aus seinen pumukelroten Haaren. Mutig kämpfte er sich durch ein dichtes Netz von Spinnweben. Er hatte sein Schwert dabei, das er für Fasching, von Opa Fritz, samt dazugehöriger Rüstung geschenkt bekam. Mit diesem Schwert teilte er tollkühn die dicht gewebten Netze und schlug jede Spinne in die Flucht. Er musste zu dem Buch der Bücher.

Opa Fritz hatte mit seinen Skatfreunden darüber geredet. Es soll in dem verwunschenen Schloss noch genau an derselben Stelle liegen, wo es lag, als die Schlossherrin von einer Sekunde auf die andere verschwand und niemals wieder gesehen wurde. Das ganze Umfeld hatte nach ihr gesucht, doch nichts deutete darauf hin, dass sie jemals in dem Schloss wohnte. Nur das Buch, in das sie angeblich hineingeschrieben hatte, lag seit dieser Zeit auf dem Lesepult.

Als damals der Kommissar hineinschauen wollte, war es, als würde eine magische Kraft das Buch auf seinem Platz festhalten und verhindern, dass irgendjemand auch nur ein einziges geschriebenes Wort zu Gesicht bekam. Die Schnur schien mit dem Buch verwachsen. Es dauerte nicht lange, dann kümmerte sich niemand mehr um das Schloss. Es gab keine Nachkommen und die Bewohner des Dorfes blieben diesem unheilträchtigen Ort lieber fern.

Max aber liebte das Abenteuer. Sollten die Feiglinge doch in ihren Häusern bleiben. Er wollte dem Geheimnis des Buches auf die Spur kommen.

Als wolle er verhindern, dass Max zu dem Buch gelangte, fegte der Wind durch die Öffnung des zersplitterten Fensterglases. Er pfiff sein grausamstes Lied, doch der mutige Max ließ sich davon nicht erschüttern. Mit seiner Blaskraft hatte der Wind das Buch fast völlig vom Staub der vergangenen Jahre befreit und damit Max einen ungewollten Dienst erwiesen. Jetzt musste Max das Buch nur noch öffnen, dann würde er das Geheimnis kennen.

Er glitt über den Boden, dessen Staubschicht ihn wie auf einer Eisbahn schlittern ließ, und hielt genau vor dem Stehpult. Mit seinem Schwert klopfte er einmal kräftig dagegen, doch das Pult stand, ohne das geringste Zittern unbeirrt auf seinem Platz. Max griff nach dem Buch und wie von Geisterhand löste sich die verwitterte Kordel, die bisher die Seiten zusammengebunden hatte. Max befreite das Buch von der Kordel. Dann hielt er es in seinen Händen. Er, Max hatte es geschafft. Das sagenumwobene Buch, das fest mit dem Schreibpult seiner Besitzerin verbunden war, lag in seinen Händen.

Er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden, legte das schwere Buch auf seine Knie und hob andächtig den brokatummantelten Deckel. Unter der verbliebenen Staubschicht schimmerten goldene Fäden zwischen dem roten verwitterten Brokat hindurch.

„Für Max“, stand in verblasster wunderschöner Schnörkelschrift, auf der ersten Seite. Erschrocken ließ Max das Buch fallen und sprang in die Höhe. Doch dann ließ sein Musketier-Herz ihn wieder auf den Boden sinken. Er hob das Buch auf, platzierte es auf seinen Knien und blätterte weiter. In einer Schrift, die Max nur lesen konnte, weil er gerne seinem Opa beim Studieren alter Schriften zusah, stand: „Dreh dich nicht um, denn der Plumpsack geht herum. Wer sich umdreht oder lacht, kriegt den Buckel vollgemacht.“ Und eine zarte Frauenstimme brachte Text und Noten, die in dem Buch verewigt waren zum Klingen.

Das kenne ich doch aus dem Kindergarten, wunderte sich Max und sein kleines aber furchtloses Herz pochte ein wenig öfter, als er dem singenden Buch lauschte.

„Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Kreis herum dididum. Er rüttelt sich, er schüttelt sich, er wirft sein Säckchen hinter sich. Es tanzt ein Biba Butzemann in unserm Kreis herum, dididum“, stand auf der nächsten Seite. Max, der auch diesen Text aus dem Kindergarten kannte, trällerte ihn, mit der unsichtbaren Frau, mit.

Er blätterte weiter. Es war eindeutig ein Buch mit Kinderliedern, nicht vollständig, denn es gab noch viele leere Blätter. Doch auf jeder Buchseite befanden sich der Text und die Noten eines Kinderliedes und bei jeder Seite, die er umschlug, erhob sich die zarte Stimme und sang ihr Lied.

Max blätterte wieder zurück zur ersten Seite. Dort stand tatsächlich „Für Max“ und darunter in kleiner, kaum mehr sichtbarer Schrift, „meinen Sohn, der nie das Licht der Welt erblicken wird.“

Max legte das Buch auf sein Pult zurück. Eine Träne tropfte auf die Oberseite des Buches und hinterließ eine kleine Spur von dem Einzigen, der außer seiner Besitzerin und seinem ungeborenen Namensvetter je den Inhalt gesehen und gehört hatte.

Hier soll es bleiben, dachte Max und schnürte das Buch so zu, als hätte er es nie geöffnet. Er legte es zurück auf das staubfreie Rechteck des Pultes, auf dem es die Jahre überdauert hatte und verließ, sein Schwert in Händen, das Schloss.

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