Drittens. – 38 Pesos.

Drittens. 38 Pesos.

Wandbild von Alegria del Prado
Wandbild von Alegria del Prado
Alegria del Prado sind ein Künstlerpaar aus Guadalajara.

 

Er war in der Klasse einer meiner Kolleginnen. Beide haben Kunst studiert (oder Fotografie). Bevor er sie kennengelernt hat, hatte er nur kleinere Sachen gemacht. Sie auch. Sie war, als die beiden schon zusammen waren (oder davor) längere Zeit in Spanien, weshalb die beiden nicht zusammen sein konnten, zumindest nicht in der Zeit, als sie in Spanien war (außer sie waren erst danach zusammen).

Auf jeden Fall sind die sie jetzt zusammen. Und bemalen Wände. Vorzugsweise mit Tieren, mit bunten Tieren.

Mit Kopfspatzen (ein Spatz, der ein Menschenkopf ist) oder Hauskröten (eine Kröte mit Dach) oder Hüttenvogelscheuchen (eine Vogelscheuche, deren Kopf eine Hütte ist).

An der Wand hängen drei Bilder von ihnen, außerdem ist die Wand ein Bild von ihnen.

 

 

 

Sieht schon geil aus ne?

Nee Mann. Guck dir mal den Vogel an.

Wieso, was ist mit dem Vogel?

Das Muster, die Farben. Die Zickzacklinien. Das ist so ein Hipster-Scheiss, der jetzt halt gerade in ist und in 10 Jahren dann einfach nur noch lächerlich.

Aber sieht doch geil aus oder?

Ja, schon.

Na also.

Eine Wand fehlt. Das hier war wohl mal eine Garage.

An der Wand, an der die Wand fehlt, fährt ein Fahrrad vorbei.

Ich zerdrücke meine zweite Quesadilla und schiebe sie mir auf die Gabel. Dicke gelbe Fäden zwischen Metall und Keramik. Die Quesadilla kämpft.

Sie verliert.

Ein kurzes Leben: Pfanne, Teller, Mund.

Knusprig.

Das Hinterrad von eben schiebt sich um die Ecke. Füße tippeln rückwärts. Der Rest des Fahrers kommt ins Bild.

Er lehnt sich über den Lenker, studiert die Schiefertafel.

Kann ich hier mit Karte zahlen?

Nein, geht leider nicht. – Ehrliche Anteilnahme.

Ok. Schade. – Ehrliches Bedauern.

Meine dritte Quesadilla trennt nur noch eine Gabel vom Nirwana. Ich habe mir Lennart gegenüber schon einen komfortablen Vorsprung erarbeitet.

Noch ein Wasser bitte.

Ein halbes Glas später erachte ich es für angemessen, der Quesadilla den Garaus zu machen.

In der Wand ohne Wand erscheint der Fahrradfahrer.

Glückseligkeit auf zwei Beinen. Ohne Fahrrad.

Der Fahrradfahrer, der jetzt kein Fahrrad mehr hat, hat dafür 38 Pesos in seinem Münzfach gefunden. Elias rezitiert die Speisekarte. Der Teil, der mehr als 38 Pesos kostet, fällt der Zensur zum Opfer. Für den Fahrradfahrer läuft das alles ein bisschen zu schnell.

Könnt ihr irgendwas empfehlen?

Naja die Tortillas mit Käse und Sesammole. Kosten eigentlich 40, aber ich denke in Anbetracht der Umstände…

Ehrlich?

Ehrlich.

Bemerkung:

Falls irgendjemand noch auf der Suche nach dem absoluten Glückserlebnis ist, ich habe neulich einen Typen gesehen, der ist in ein Restaurant gegangen und hat mit 38 Pesos Tortillas mit Käse und Sesammole bezahlt, die normalerweise 40 kosten. Ich habe noch nie einen so fröhlichen Menschen gesehen.

Mich macht der Fahrradfahrer ohne Fahrrad neugierig.

Ich suche vergeblich nach irgendeiner unaufdringlichen Art, mich nach seinem finanziellen Engpass zu erkundigen.

Und außerdem nach dem Fahrrad.

Lucy erlöst mich.

Konntest du kein Geld abheben?

Kauen. Schlucken. Er isst jetzt in einer anderen Welt.

Lucy wiederholt sich.

Konntest du kein Geld abheben?

Er löst sich von seinem Teller, dreht den Kopf. Sucht den Raum ab. Findet Lucy.

Ich hatte keine Ahnung, wo hier ein Automat ist. Ich hab’ auch nicht geplant, Geld abzuheben. Ich hatte ja auch genug dabei.

Der Fahrradfahrer ohne Fahrrad trägt keine Tasche bei sich, die etwaige Einkäufe erklären würden. Das ist auch Lucy aufgefallen. Sie fragt ihn, ob er bestohlen worden sei.

Der Fahrradfahrer ohne Fahrrad verneint.

Ich habe es ausgegeben.

Für das Fahrrad?

Für ein Eichhörnchen.

Für ein was?

Für ein Eichhörnchen.

Für ein was?

Ardilla heißt Eichhörnchen.

Danke.

Und ähm, wenn du die Frage gestattest… (Sie interessiert sich nicht im Geringsten dafür, ob er die Frage gestattet.) Kannst du das ein bisschen näher erklären?

Der Fahrradfahrer ohne Fahrrad schielt sehnsüchtig auf seine eineinhalb Tortillas mit Käse und Sesammole. Er verabschiedet sich.

Ich bin auf den Mercado Libertad gegangen. Wollte eigentlich nur was zu essen kaufen.

Mercado Libertad

Orientierung ist eine Illusion. 

Die Belüftung funktioniert erstaunlich gut. Die Beleuchtung nicht so. 

Handmade-Guadalajara-Geldbeutel, Handmade-Guadalajara-Taschen, Handmade-Hasenpfoten und alle möglichen anderen Handmade-Schlüsselanhänger. Alles Unikate, alles “nur hier” und das auch noch an fünf verschiedenen Ständen.

Was braucht ihr beide eigentlich?

Wir müssen zuerst einmal eine Tasche kaufen, für das Gemüse.

Da müssen wir hier unten schauen.

Wir schauen unten.

Neben mir liegt ein Kopf. Die Augen sind noch drin und überhaupt alles sieht noch ziemlich intakt aus. Fehlt nur der Körper. Der liegt oben drüber. Also nicht in einem Stück. Hier liegt ein Bein, dort ein Stück Bauch. An einem Fleischerhaken baumeln Innereien. Auf einem Tisch sind rosa Lappen gestapelt. Mit fleischigen Widerhaken. Der ganze Gang sieht so aus.

Lass uns weitergehen, ich kann das nicht sehen. – Das ist Steffi. 

Ja, bitte, ich glaub’ ich kotz’ gleich. – Das bin ich

Nee wartet mal noch, ich find das hier irgendwie geil. – Das ist Mia. 

Mia war bis vor 6 Monaten Veganerin

Zum Glück sind Steffi und ich in der Überzahl. Wir biegen nach links ab.

Wir weilen jetzt unter den Lebenden.

Die Lebenden zwitschern. Und quietschen. Und rennen gegen die Wände von Plastikkästen. Und sind eingequetscht, verkrümmt zwischen Gitterstäben. Und stehen in ihren Fäkalien und zwischen ihren Toten. 

Dort gibt es doch diese Ecke, dort wo sie die lebenden Tiere verkaufen. Vögel und Hasen und Meerschweinchen und Hühner und so. Und dort habe ich das Eichhörnchen gekauft.

Und… – Ich stocke, verliere das Vertrauen in die mexikanische Küche- . …Was hast du damit gemacht?

Naja was wohl?

Ja was denn? – Die zweite Quesadilla fasst in meinem Magen neuen Lebensgeist.

Na ich hab’s freigelassen.

Die Quesadilla gibt auf.

Ich meine du siehst dort ja einiges auf dem Markt. Hamster, Meerschweinchen, alle möglichen Vögel. Aber da waren diese beiden Eichhörnchen. In einem Plastikkasten, die sind komplett durchgedreht. Meerschweinchen und Hasen und Hühner, das sind Tiere die werden in ‘nem Stall geboren und sterben dort auch. Aber so ein Eichhörnchen kannst du einfach nicht einsperren, die macht das kaputt. Weil die die Freiheit kennen. Die brauchen die Natur, die brauchen Bäume.

Ich geh also zu dieser fetten Frau hin und frag, was sie für ein Eichhörnchen will. Mach so einen auf interessierten Kunden.

Und die so 900.

Du hast 900 für ein Eichhörnchen bezahlt?

Ne ne. Ich hab gesagt ich hätt’ nur 550.

Wow, clever…

Nee, nicht wirklich.

Wieso?

Ich hatte wirklich nur 550.

Auf jeden Fall hat der Mann von der fetten Frau mich dann gefragt, welches von den beiden Eichhörnchen ich will. Und ich so naja is egal. Ich bin ja hier nicht Herr über Leben und Tod oder so weißte.

Packt der mir dann eins von den beiden in ‘nen Karton und macht da so Schlitze rein, damit das Viech auch atmen kann. Und dann erzählt der mir noch, was die alles essen. Als ob’s den juckt. Garantie gibt er jawohl keine drauf.

Ich hab’s dann direkt zum Parque Morelos gebracht. Hab richtig gemerkt wie das Herz schlägt in dem Karton.

Ist dann direkt ‘n Baum hochgeklettert. Hat mich noch so angeguckt, als ob’s Danke sagen wollte.

Ich bin stumm. Lennart auch. Elias und Lucy lachen.

Der Fahrradfahrer ohne Fahrrad und ohne Eichhörnchen sagt nichts. Er scheint verdutzt darüber zu sein, sich freiwillig so lange von seiner Tortilla entfernt zu haben.

Er sammelt sich wieder und fixiert seine Mahlzeit.

Ja aber…

Bemerkung: Falls irgendjemand auf der Suche nach einem Weg ist, jemanden absolut zu frustrieren. Ich habe neulich einen Typen in einem Restaurant davon abgebracht, seine letzte anderthalbe Tortilla mit Käse und Sesammole zu essen. Mich hat noch nie jemand so empört angeschaut.

… wenn du jetzt so ein Eichhörnchen kaufst, was dann passiert ist doch einfach, dass die Leute noch mehr Eichhörnchen fangen, weil du denen ja zeigst, dass die einen Markt haben.

Ja, weiß ich.

Und außerdem, weißt du überhaupt, ob die hier heimisch sind und einfach so in einem Park überleben können?

Ich hab’ keine Ahnung.

Dann bist du dir also bewusst, dass du vielleicht komplett umsonst ein Eichhörnchen für 500 Pesos gekauft hast und dann auch noch dafür gesorgt hast, dass in Zukunft noch mehr Eichhörnchen gefangen werden?

Ich habe für die 550 Pesos doch nicht das Eichhörnchen gekauft.

Was denn sonst?

Ich hab’ mir das Gefühl gekauft, sowas wie ein Mensch zu sein.

Und wie fühlst du dich jetzt?

Mies.

Wieso das?

Wegen dem anderen.

Mit einem Bissen verschlingt er seine letzte Tortilla.

Ein Baum im Parque Morelos.
Ein Baum im Parque Morelos.

von jannikbmann

Fortsetzung folgt in kürze:

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